“Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.”
“Oder: Vom Guten im Schlechten.”
Autor: Mario Rosa-Bian
Ich war 14 Jahre alt, als meine Mutter starb. Sie starb 1971 in einer Uni-Klinik zwei Wochen nach einer Operation. Sie hatte Zystennieren und die Ärzte glaubten damals, diese Krankheit mit einer sogenannten Stichelung, d.h. Öffnen und Entfernen der Zystenflüssigkeit, aufhalten zu können. Heute weiß die Medizin, dass diese Operation nicht zielführend ist.
Ein Jahr später versetzte mir ein nur bedingt konfliktfähiger Klassenkamerad durch einen gekonnten Faustschlag in meine rechte Niere eine mächtige Nierenquetschung. Ich war wochenlang im Krankenhaus, das Nierenbluten hörte nicht auf, es folgte Untersuchung auf Untersuchung. Die Blutungen hörten irgendwann auf, gleichzeitig teilten die Ärzte mir mit, dass ich ebenfalls Zystennieren hätte.
1975 hatten sich Zysten entzündet. Ich war wieder im Krankenhaus, wo man bei mir in demselben Krankenhaus, auf derselben Station, auf der meine Mutter starb, dieselbe Operation durchführen wollte. Ich habe mir fast in die Hose gemacht, mein Stiefbruder richtete mich auf, er appellierte an meinen Kampfgeist. Die Operation glückte, nach einigen Komplikationen wurde ich nach 6 Wochen entlassen. Die Ärzte sagten mir, dass ich keine 60 Jahre alt werden würde, dass ich mein Leben darauf einrichten und dass ich keine Kinder in die Welt setzen solle, damit die Krankheit auf keinen Fall weitervererbt würde.
Doch es kam anders.
Ich habe im Oktober 2016 meinen 60. Geburtstag gefeiert.
Hmm, in der Rückschau habe ich mein Leben nicht auf „weniger als 60 Jahre“ eingestellt, ich war beruflich genauso aktiv wie erfolgreich, habe bei einem IT-Unternehmen diverse Aufgaben und Rollen wahrgenommen, möglicherweise eine oder zwei zu viel, außerdem musste das Haus ja auch noch umgebaut werden…
1991 bekam ich heftigste Nierenkoliken, auf einer Schmerzskala von 1 bis 10 lagen meine Schmerzen bei 11 (die Skala für Männer geht bis 11).
Meine Nierenfunktion wurde stetig schlechter, ich wurde vom Hausarzt an die nephrologische Ambulanz meiner heimischen Uni-Klinik „angebunden“. Dort prophezeite man mir die Notwendigkeit eines radikalen Lebenswandels: Ich würde durch die unvermeidliche, bald beginnende Dialyse beruflich erheblich kürzer treten müssen und total immobil, meine Reisen zu meinem Arbeitgeber von NRW nach Baden-Württemberg würde ich beenden müssen, Urlaub wäre nur sehr eingeschränkt, am besten nur in Deutschland, möglich.
Doch es kam anders.
Zunächst jedoch geschah etwas sehr Typisches für viele Dialysepatienten; im weiteren Verlauf später dann etwas sehr Untypisches.
Meine Dialysepflicht begann 1993, ich hatte den Beginn der Dialyse bis zuletzt immer wieder verdrängt, mich selbst und meine Ärzte belogen, indem ich immer antwortete „Mir geht es gut, es geht noch ohne Dialyse.“ In Wahrheit war ich müde, abgespannt, erschöpft, hatte Konzentrationsmängel und Wasser in den Beinen. Irgendwann ging es einfach nicht mehr.
Ich komme zum Typischen: Ich fiel mit Beginn der Dialyse in ein tiefes Loch, war traurig, sauer und fragte mich: wieso gerade ich? Es gibt so viele Idioten, warum bekommen die nicht Nierenversagen?
Mein Dialysearzt riet mir schon vor Beginn der Dialyse dazu, mich auf die Warteliste für eine Nierentransplantation setzen zu lassen; in meinem (geringen) Alter hätte ich gute Chancen auf eine kurze Wartezeit und einen guten Verlauf der Transplantation. Damals betrug die statistische/ durchschnittliche Wartezeit auf eine Niere ca. fünf Jahre.
Ich las Bücher über chronische Krankheiten, sprach viel mit meinem Dialysearzt und kam nach ca. einem halben Jahr zu dem Schluss: Wenn der liebe Gott solche Krankheiten schon nicht verhindern kann, dann gibt er sie denjenigen, die sie (er)tragen können. Ich sprach mit meiner Krankheit und machte ihr klar, dass sie mich nicht kleinkriegen würde; sie erwiderte, dass ich sie auch nicht kleinkriegen würde – wir hatten und haben uns arrangiert, obwohl die Dialyse körperlich sehr anstrengend ist. Ich hatte nur drei Mal in der Woche jeweils fünf Stunden eine Nierenfunktion, macht unter dem Strich ca. 15% Nierenfunktion.
Natürlich habe ich Urlaub mit Dialyse gemacht, in Österreich, in Italien, in der Schweiz, in anderen Teilen Deutschlands, natürlich bin ich jede Woche für 2-3 Tage nach Baden-Württemberg gefahren, hatte zwei Dialyseärzte, einen in NRW, den anderen in Baden-Württemberg.
Nach genau 2 Jahren und 6 Monaten Dialyse kam morgens der Anruf „Wir haben eine Niere für Sie!“ Ich reagierte so, wie ich es vorher, als ich jeden Tag auf diesen Anruf gewartet hatte, mir nie vorgestellt hatte: Ich erwiderte „Ich kann nicht, habe heute Urlaub und muss jetzt gleich im Baumarkt was kaufen“.
Mein Dialysearzt konnte mich jedoch recht schnell überzeugen, das Angebot anzunehmen. Ich wurde nachmittags transplantiert, die Niere lief sofort an und alles schien eine gute Entwicklung zu nehmen.
Doch es kam anders.
Und das ist das sehr Untypische für eine Nierentransplantation:
Drei Wochen später war ich voll Wasser gelaufen, keiner wusste jemals die genaue Ursache; ich kam auf die Intensivstation, kam für eine Woche ins künstliche Koma, hatte während des Komas Herz- und Kreislaufversagen, war kurz im Himmel und wurde reanimiert.
Die Niere erholte sich und nach fünf Monaten konnte ich wieder arbeiten gehen, allerdings, ich muss zugeben, mit einer anderen Wahrnehmung für mein Leben und die Welt. Vogelgezwitscher und Kindergeschrei gehören nun zu meinen „akustischen Leckerbissen“, vorher hatte ich es nicht wahrgenommen oder mich darüber geärgert. Die Ärzte sagten, dass mein Transplantat mit etwas Glück zehn Jahre funktionieren würde.
Doch es kam anders.
Sie läuft jetzt fast 26 Jahre und alle wichtigen Werte sind verhältnismäßig sehr gut. Nun bin ich Rentner und engagiere mich ehrenamtlich im Vorstand der I.G. Niere NRW e.V., des Netzwerkes Organspende NRW e.V. und im Patientenbeirat des Westdeutschen Zentrums für Organtransplantation innerhalb der Universitätsklinik Essen. Ich möchte, dass es möglichst allen Patienten, die auf ein Herz, eine Leber, Lungen, eine Bauchspeicheldrüse oder eine Niere warten, so gut gehen soll wie mir.
Was auch zu meiner Geschichte gehört: Wenn Ärzte Ihnen eine schlechte Prognose stellen, hinterfragen Sie sie, bis Sie alles verstehen, was Sie wissen wollen. Seien Sie kritisch. Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken, Ihren Optimismus, Ihren Glauben, Ihre Familienangehörigen und Freunde, tauschen Sie sich aus. Hören Sie Ihrem Arzt zu, treten Sie mit Ihren Ärzten in den Dialog, immer wieder und weiter, werden Sie der Experte für Ihre Krankheit, horchen Sie in sich, in Ihre Seele, Ihren Körper hinein.
Das mit den Kindern kam übrigens auch anders: Seit Januar 2015 bin ich Vater von zwei erwachsenen Kindern, die ich adoptiert habe.
Eine Transplantation ist keine Heilung der Krankheit aber die bestmögliche Therapie. Ich fasse zusammen: Es kam für die Krankheit, für die Ärzte, für die Kinder und auch für mich alles anders als es anfangs aussah. Und anders war gut!
Wie hat sich mein Leben nach der Transplantation verändert?
Ich sehe drei Aspekte. Erstens bin ich meinem unbekannten Spender, seinen Angehörigen, den Ärzten und dem Pflegepersonal unendlich dankbar, dass ich dies alles in den letzten 26 Jahren erleben durfte und darf. Mir wurde ein zweites Leben geschenkt. Zweitens konnte ich durch die Transplantation meine berufliche Karriere fortsetzen, viele Erfolgserlebnisse sammeln und auch vielen Kunden helfen, was mir und den Kunden sehr viel Spaß gemacht hat. Das wäre ohne die Transplantation nicht möglich gewesen. Drittens haben mir Freunde und Familienmitglieder nach der Transplantation die Rückmeldung gegeben, dass ich mich zum Positiven verändert hätte. Vorher wirkte ich wohl auf andere manchmal missmutig, unempathisch und egoistisch. Dies habe sich seit der Transplantation sehr geändert, sagen einige.
Das Leben ist ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Ich habe dieses Geschenk durch die Transplantation ein zweites Mal erhalten. Das wünsche ich jedem Menschen von Herzen, der auf ein Organ wartet.